Die Problematik der Invalidenversicherung in der Schweiz
Es ist an der Zeit, über die unsäglichen Vorgehensweisen der Invalidenversicherung in der Schweiz zu sprechen. Diese staatliche Institution war in den letzten Wochen und Monaten immer wieder in den Medien. Seltsame Vorgehensweisen, überforderte Mitarbeiter und liegen gelassene Dossiers prägen das Bild. Autismus und Ableismus bis zu Diskriminierung.
Trigger-Warnung: Verstörende Inhalte
Vorab eine Trigger-Warnung: Im Verlauf des Beitrags werde ich auf einige sehr verstörende Vorgänge hinweisen. Es wird Hinweise auf psychischen Missbrauch und Meltdowns geben. Wer damit nicht umgehen kann, sollte nicht weiterlesen.
Erste Anzeichen und Diagnose: Der Beginn einer langen Reise
Wir schreiben das Jahr 2022. Nachdem ich beruflich immer mehr Mühe hatte, mich den neurotypischen Menschen anzupassen, mich einzugliedern, zu „maskieren„, ging eines schönen Tages einfach nichts mehr. Natürlich hatte sich dieser Zusammenbruch schon lange angekündigt. Immerhin war ich als nicht diagnostizierter Autist bereits mit 12 Jahren beim Jugendpsychologen, weil „irgendetwas nicht stimmt“. Ja, ich war anders, hatte keine Freunde. Mich hat das nie gestört, es hat nur andere gestört. Weil ich nicht ins Schema passte.
Die Maskierung: Anpassung an die neurotypische Welt
Nach ein paar Sitzungen lernte ich, dass ich mich angeblich falsch verhalte. Also begann ich zu maskieren, damit ich in eben dieses Schema passte. Was niemand wusste: Diese Anpassung, dieses Maskieren, machte mich krank. So sehr, dass ich mich ein Jahr später an eine Wasserwalze stellte und mein Leben beenden wollte. Mit 13 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich jedoch die Verantwortung für Aquarienfische übernommen. Also ließ ich von meinem Vorhaben ab und litt still weiter.
Der ständige Kampf: Zusammenbrüche und unzureichende Unterstützung
Die Gedanken, allem ein Ende zu setzen, blieben. Bis heute. Immer wieder konnte ich nicht mehr, brach zusammen. Alleine, still und heimlich. Ich hatte ja gelernt, dass ich mich nicht falsch verhalten solle.
2010 war es wieder soweit, dass ich komplett zusammenklappte. Der erneute Gang zum Psychologen war genauso wie mit 12 Jahren. Ich lernte, dass ich mich einfach mehr anstrengen sollte, um besser in die Gesellschaft zu passen. Körperlich und psychisch war ich bereits am Ende. Ich entdeckte Nahrungsergänzungsmittel, die es mir erlaubten, nochmals durchzuhalten. Weiterzumachen. Zu leiden. Jeden einzelnen Tag. Jeden Tag würde ich kränker.
Die Pandemie als Wendepunkt: Isolation und Erkenntnisse
Dann kam Corona.
Für mich war die Pandemie einer der Schlüsselmomente. Dieser Hass, diese Hetze, diese Spaltung in der Bevölkerung zeigten mir, dass ich überhaupt nicht in das Schema und Verhalten der Menschen passe (Ich moniere hier nicht die Politik, sondern die Gesellschaft). Während dieser Zeit durfte ich meine damalige Partnerin, heute meine Ehefrau, nicht sehen. „Wir können keine Rücksicht auf eine Minderheit nehmen“, hieß es damals vom Bundesrat. Ich begriff, dass diese Menschen nicht zu mir passten. Die Frage stellte sich: Bin ich überhaupt ein Mensch?
Die Diagnose: ASS und der Weg zur Invalidenversicherung
Also ließ ich abklären, was bei mir so anders sei. Die Diagnose: ASS-Störung, Hoch- oder Höchstbegabung (Ich halte nichts von IQ-Tests, das ist meiner Meinung nach wieder so ein Neurotypisches-Ding), Misophonie, ADHS usw. usf. Endlich wusste ich, dass ich all die Jahre nicht falsch gehandelt hatte, sondern schlicht und einfach ein anderes Betriebssystem in meinem Kopf hatte. Auf Anraten der UPD in Bern wandte ich mich an die Invalidenversicherung, kurz IV. Endlich hatte ich Hilfe gefunden. Oder?
Das Martyrium beginnt: Anmeldung und erste Erfahrungen
Das Martyrium, das ich dann erlebte, spottet jeder Beschreibung.
Im September 2022 meldete ich mich bei der IV an, um Unterstützung im beruflichen Bereich zu erhalten. Immerhin wurde bei mir ein Gebrechen diagnostiziert, das seit Geburt bestand. Eine Eingangsbestätigung des Gesuchs ging bei mir ein. Dann hörte ich bis April 2023 nichts mehr. Schweigen. Für Autisten wie mich eine Qual.
Unprofessionelle Beratung: Die Notfalltriage
Ich intervenierte und konnte dann tatsächlich an einem „Eingliederungsgespräch“ mit einer „Fachperson“ im April 2023 teilnehmen. Die Dame war von der ersten Sekunde an komplett mit mir überfordert. Ich solle ein Coaching machen. Aha. In welchem Bereich? Privat, beruflich? Das konnte mir bei der IV bis heute niemand beantworten. Ich nehme an, sie wussten selbst nicht, was sie mit mir anstellen sollten. Ich monierte zudem, dass eine falsche Adresse für meine private berufliche Vorsorge hinterlegt sei. Die Adresse wurde erst im Frühling 2024 angepasst. Wurden die Unterlagen nachgereicht? Wahrscheinlich nicht. Eine entsprechende Rückmeldung auf meine Anfrage habe ich nie erhalten.
Übrigens: Vorher hatte ich ein paar Sitzungen bei einer Notfalltriage. Den Rat, den ich erhalten habe war an Unprofessionalität nicht zu übertreffen: Wir tragen schließlich alle eine Maske und das müssen sie halt wieder tun. Ja, weil es so gut funktioniert hat, mich krank gemacht hat, soll ich einfach das gleiche weiter tun. Himmel hilf!
Schlamperei und falsche Entscheidungen: Die Sorgfalt der IV
Dass die IV es mit der Sorgfalt nicht so genau nimmt, konnte ich an mehreren Stellen erfahren. Ich wurde schriftlich angefragt, wer 2010 mit mir gearbeitet hatte, wie es im Abklärungsbericht auf Seite 9 stand. Ich schrieb zurück, dass es sich um die Adresse auf Seite 6 handle. 12 Seiten eines Abklärungsberichtes zu lesen ist unglaublich fordernd, gerade, wenn man jeden Tag damit zu tun hat. Wie oft haben diese „Fachpersonen“ auf Grund von Schlamperei in dieser Hinsicht schon falsch entschieden?
Fehlende berufliche Unterstützung: Ein unsichtbarer Fall
Weiterhin sollte ich Unterstützung für eine berufliche Eingliederung erhalten. Raten Sie mal: Nichts. Natürlich nicht. Die andere Fachperson für die berufliche Eingliederung, die zweite mittlerweile, da die erste noch überforderter war als die zweite, konnte mich nicht unterstützen. Ein Fall wie meiner sei nicht vorgesehen. Aha. Man wird also als behinderte Person einfach im Stich gelassen? Kann man machen. Ist das richtig? Entscheiden Sie.
Unglaubwürdige Gutachter: Misstrauen gegenüber der Universitätsklinik
Es geht noch weiter. Ein Gutachten sollte her, da die Universitätsklinik in Bern für die IV nicht vertrauensvoll genug ist. Eine Wald- und Wiesenklinik kann das besser als die Universitätsklinik. Natürlich, was denken Sie denn? Im September 2023 erhielt ich diesbezüglich eine Info, dass entsprechende Gutachter aufgeboten werden. Auf der Webseite des einen Gutachters stand, dass man keine ASS-Abklärungen durchführt. Dies monierte ich bei der IV, ob denn das überhaupt ein Gutachter ist, der auch ein Gutachten für mich erstellen könne. Natürlich wurde ich ignoriert. Im März 2024 wurde ich informiert, dass in den nächsten 90 Tagen das Gutachten durchgeführt werde. Bei genau den monierten Gutachtern.
Schweigen und Unsicherheit: Die Folter der Ungewissheit
Stand am 13.07.2024: Nichts. Mehr noch, die betreffende Ansprechperson hält es nicht für nötig, sich zu melden. Wie schon so oft vorher. Man meldet sich einfach nicht, obwohl offensichtlich wieder etwas schiefgegangen ist. Ich vermute einfach, dass meine Bemerkung vom September 2023 korrekt gewesen ist und jetzt wissen diese „Fachpersonen“ nicht, was sie denn tun sollen. Denn, je länger diese Rumgeeiere andauert, desto mehr kann ich in einem Rechtstreit einbringen. Was die Steuerzahlenden übrigens auch wieder berappen müssen.
Für mich als Autist können Sie mich nicht mehr foltern, als wenn Sie mich einfach nicht informieren, wenn Sie mich im Ungewissen lassen. Natürlich habe ich die IV an mehreren Stellen mehrfach darauf hingewiesen. Interessiert es jemanden? Nein. Ich muss dieser Institution unterstellen, dass das mit voller Absicht passiert. Denn wissen tun sie es. Allesamt. Selbst ein Schreiben von einem Arzt, welches für einen bekannten von mir ausgestellt worden ist, hatte ich zum besseren Verständnis an die IV gesendet. Alles vergebliche Liebesmühe. Ich habe es wirklich auf alle Arten versucht. Man wird ignoriert. Autismus und Ableismus bis zu Diskriminierung, es ist immer das gleiche Schemata.
Meltdowns und Selbstverletzung: Die psychischen Folgen
Das Resultat dieser kompletten Unfähigkeit sind unzählige Meltdowns, verschuldet von der IV. Zum Teil sind diese so gravierend, dass ich mich selbst weh tue (Kratzer, Schürfungen, blaue Flecken). Merke: Die Ursache liegt bei der Institution, die mir helfen sollte. Doch diese Dilettanten tun alles, damit es mir möglichst schlecht geht. Selbst die Tagesschau in Deutschland hat darüber schon berichtet: https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/autismus-neurologie-trend-101.html
Ignorierte Risiken und Suizidalität: Eine besorgniserregende Statistik
Nach meinen Erfahrungen mit der IV wundert mich diese Statistik nicht mehr: https://www.autisten.info/ignoriertes-risiko-suizidalitaet-im-autismus-spektrum/ Wie viele Menschen sind auf Grund solcher Vorgänge bereits ums Leben gekommen? Weil nicht gehandelt worden ist? Weil Ableismus und Diskriminierung an der Tagesordnung sind? Es wäre interessant, hierzu eine Untersuchung einzuleiten. Ohne meine über alles geliebte Frau, meinen Engel, wäre ich vermutlich jetzt auch Teil dieser Statistik. Die IV hat alles dran gesetzt, dass es mir noch schlechter geht, als ohnehin schon. Übrigens habe ich diese Info der Cambrige-University meinen Ansprechpersonen bei der IV zugestellt. Es wird nicht entsprechend gehandelt. Die Ignoranz in dieser Institution ist beispiellos. Hat die IV in dieser Hinsicht vielleicht sogar schon Menschenleben auf dem Gewissen? Die Frage muss man sich meiner Meinung nach stellen, wenn ich auf meine Erfahrungen zurück blicke.
Ableismus und Diskriminierung: Telefonieren als Hürde
Ableismus ist bei der IV übrigens an der Tagesordnung. Als Autist habe ich enorme Mühe, zu telefonieren, ich blockiere regelmäßig und kann mich nicht mehr artikulieren. Das habe ich bei der IV von Anfang an so kommuniziert und gebeten, dass die Kommunikation auf schriftlicher Ebene passiert. Das Schreiben vom 26.03.2024 „Bitte rufen Sie an…“, Ein Schreiben vom 23.10.2024 „Bitte rufen Sie an…“, Ein Schreiben von 2023 ohne Datum: „Bitte rufen Sie an…“. Also kein einmaliges Versehen. Geht diese Institution auch bei blinden und tauben Menschen auch so vor? Wenn das jetzt ein Zahnarzt wäre, dann hätte ich kein Problem damit. Aber so, das kann einfach nicht sein. Das ist diskriminierend und ableistisch und tritt die Würde behinderter Personen mit Füssen.
Probleme mit der Krankenkasse: Einschränkung der Psychotherapie
Mittlerweile wird natürlich auch die Psychotherapie moniert. Die Krankenkasse möchte nur noch einen Teil der Stunden übernehmen. Obwohl ich keinerlei Schuld an der Situation habe. Ein weiteres Trauerspiel. Ich wundere mich definitiv nicht mehr über explodierende Prämien. Wenn überall so gearbeitet wird, dann kommt niemand weiter. Es werden immer mehr, die Hilfe benötigen, weil einfach niemand handelt.
Eigeninitiative als Ausweg: Fehlende staatliche Unterstützung
Ich werde mich irgendwie selbst aus der Situation befreien müssen. Auf die Hilfe des Staates kann ich nicht zählen. Im Gegenteil. Es wird alles unternommen, damit ich noch mehr leide als sowieso schon. Ableismus in Reinform. Wie diese Befreiung gehen soll? Ich weiß es nicht, da leider auch in der Gesellschaft das Thema Autismus größtenteils ignoriert wird. Trotz Fachkräftemangel sogar in der Arbeitswelt! Die Meisten von uns autistischen Menschen wären an angepassten Arbeitsplätzen und mit etwas Rücksichtnahme durchaus arbeitsfähig. Mehr noch, richtig eingesetzt, wären viele Autist:innen Perlen für Firmen. Die Alternative, uns einfach auf ein Abstellgleis zu schieben, ist einfacher. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Kosten für diese allgegenwärtige Ignoranz sind für die Allgemeinheit zu tragen. Eine Inklusion wäre für alle Seiten von Vorteil. Ach ja, in der Verfassung wäre das ja auch so hinterlegt.
Die Bundesverfassung: Diskriminierungsverbot
«Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.»
Bundesverfassung: Art. 8, Abs. 2 BV
Neuausrichtung der Invalidenversicherung: Eine Geldverbrennungsmaschine
Meiner Meinung nach müsste die IV komplett neu aufgestellt werden. Von Null auf und die alte Institution müsse geschlossen werden. In der jetzigen Form ist das eine Geldverbrennungsmaschine, die sehr, sehr vielen Menschen nicht hilft. Rente nach Schema „F“ verteilen funktioniert vielleicht. Mehr aber auch nicht. Das reicht im Jahr 2024 nicht mehr.
Zukunftsperspektiven: Leben in der Schweiz und internationale Vergleiche
Mittlerweile frage ich mich, ob ich in der Schweiz überhaupt eine Zukunft habe. Unter diesen Voraussetzungen nicht. Selbst in den VAE ist das „Hidden Disabilities“ Sunflower anerkannt. In der Schweiz? Natürlich nicht. In Deutschland kommt es langsam, der BER Flughafen ist mittlerweile Mitglied. Eine positive Entwicklung. Mehr Infos finden Sie hier: https://hdsunflower.com/
Schlussfolgerung: Der Ruf nach Sichtbarkeit und Anerkennung
So leiden viele Autist:innen jeden Tag im Versteckten weiter ihr Leiden. Es wird Zeit, dass wir Autist:innen aus dem Schatten heraus treten.
Update 1:
Ich hatte recht. Am 30.09. hatte ich moniert, dass die Gutachterstelle nicht für mich geeignet ist. Mittlerweile habe ich die Bestätigung. Es ist unglaublich, wie hier Unfähigkeit gelebt wird. Wenn ich jetzt ein Fall wäre, wie er alle 50 Jahre auftritt, doch sind 15 – 20% der Bevölkerung neurodivergent. Es handelt sich um Standardabläufe!
Nachstehend ein paar Berichte über die IV der letzten Monate. Ich bin also nicht alleine und das Thema muss endlich angegangen werden!
https://www.20min.ch/story/so-gross-sind-die-kantonalen-unterschiede-bei-den-iv-renten-498456380415
Disclaimer:
Die Beiträge bilden nur meine Meinung ab. Sie haben Ihre eigene – großartig! Wir können alle Freunde sein.