You are currently viewing Meine Fähigkeiten – Ein gesellschaftlicher Albtraum
Foto von Emmanuel Ikwuegbu auf Unsplash

Einen Tisch decken? Oder Lift fahren? Einen Pullover anziehen? Das ist kein Problem für Sie, nicht wahr? Ein Kinderspiel. Für mich nicht. Wie sieht es aus mit dem Erlernen einer Sprache? Das ist schwierig, nicht wahr? Nicht für mich.

Meine Frau und ich haben immer das gleiche Ritual, wenn wir uns in ein Restaurant setzen: Erst einmal wird alles umdekoriert. Die Blume dahin, die Salz- und Pfefferstreuer aus dem Blickfeld, das Besteck richten. Einfach hinsetzen? Nicht möglich. Jedenfalls nicht für uns. Rolltreppen sind auch suspekt. Auf diese rollenden Ungeheuer aufzusteigen ist jedes Mal eine Tortour. Einer der Gründe, warum ich nicht mit dem Lift fahre oder diese automatischen Treppen benutze. Ich mag die Dinger einfach nicht. Scheitern im Alltag.

Anders verhält es sich mit Sprachen. Während meines Aufenthaltes in Kairo habe ich die wunderschönen Hieroglyphen an den Wänden und Statuen betrachtet. Wissen Sie, was mich genervt hat? Ich habe nicht verstanden, was die alten Ägypter uns hinterlassen haben. Die Wände und Statuen waren stumm und still, obwohl so viel darauf geschrieben war. Das geht gar nicht, so etwas akzeptiere ich nicht. Also habe ich mir ein dickes Wörterbuch aus dem Internet heruntergeladen und während zwei Tagen Hieroglyphen gelernt. Die Technik ist heutzutage wunderbar. Man ist irgendwo in einem fernen Land und möchte mehr wissen, einmal kurz geklickt, der Wissensdurst wird befriedigt. Fantastisch! Insgesamt an die 45 Minuten habe ich im Hotelzimmer die wichtigsten Schriftzeichen gelernt. Beim nächsten Abstieg in die Gräber in Theben haben die Wände angefangen zu sprechen. Grossartig! Uralte Texte geben ihre Botschaft weiter, sei es ein Inventar, ein Ritual oder eine Geschichte. Ich war einfach fasziniert. Und meine Begleiter allesamt neidisch, erstaunt oder konfus. Mir wurde schon mehrfach entgegnet: «Du weisst auch immer alles. Es ist frustrierend, neben Dir zu sein.» Das stimmt zwar nicht, dass ich alles weiss, aber danke für das Kompliment. Inzwischen kümmern mich solche Aussagen nicht mehr.

Für mich ist es wie selbstverständlich, mich in Null-Komma-Nix in ein neues Gebiet einzuarbeiten. Ich möchte ein Teleskop kaufen? Kein Thema. Drei Mal am Abend kurz recherchiert und schon weiss ich mehr als die Experten im Fachgeschäft. Schön ist auch: Ich vergesse die gelernten Fähigkeiten nicht mehr. Einmal kurz neu einlesen, et voilà, alles ist wieder präsent und los geht es. Diese Fähigkeiten sind ganz praktisch und genial.

Oder sprechen Sie in einem Satz drei verschiedene Sprachen, ohne darüber nachzudenken oder sich zu verhaspeln. Ich liebe das, weil es mich fordert. Dann stehe ich allerdings komplett allein da, weil mich alle konsterniert anschauen. Dabei mache ich dies nicht, um andere zu überfordern oder anzugeben. Es macht mir einfach Spass, weil ich Sprachen liebe.

So haben wir alle unsere Stärken. Oft höre ich, dass meine Mitmenschen meine Fähigkeiten auch haben möchten. In gewissen Bereichen sind diese sicherlich ganz nützlich. Doch Hand aufs Herz: Möchten Sie wirklich am Tischdecken oder an der Rolltreppe scheitern? Mit Menschen nicht ins Gespräch kommen können, weil Sie zu viel wissen und somit das Gegenüber irritieren überfordern?

In diesem Sinne, haben Sie ein schönes Leben. Geniessen Sie die kleinen Selbstverständlichkeiten und Ihre Fähigkeiten.

Disclaimer:
Die Beiträge bilden nur meine Meinung ab. Sie haben Ihre eigene – grossartig! Wir können alle Freunde sein.